Rede auf der Gedenkkundgebung zum 9. November 2022 in Welzheim

Rede auf der Gedenkkundgebung zum 9. November 2022 in Welzheim

Wir haben uns am diesjährigen 9. November an der Kundgebung des Offenen Antifaschistischen Treffens Rems-Murr in Form eines Redebeitrags beteiligt, den wir nachfolgend dokumentieren. Den Bericht zum Tag findet ihr hier.

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Liebe Welzheimerinnen und Welzheimer, liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,

wir sind heute hier, um der Reichspogromnacht zu gedenken. Vor 84 Jahren wurden in ganz Deutschland Jüdinnen und Juden vom faschistischen Mob angegriffen, ihre Wohnungen, Geschäfte und Gotteshäuser zerstört und geplündert, hunderte fanden in dieser Nacht den Tod.

Es ist keine Willkür, dass gerade der 9.11 auch als Gedenktag für die durch den Hitlerfaschismus verfolgten Jüdinnen und Juden fungiert. Das Besondere diesem Tag ist, dass er einen Wendepunkt markierte, ein Umschlagen von Ausgrenzung, Benachteiligung, Markierung als Feind, hin zur physischer Vernichtung, die im Holocaust ihren Höhepunkt fand.

Dabei müssen die Ereignisse dieser Nacht in ihrer Kontinuität betrachtet werden. Schon im Kaiserreich waren Antisemitismus und Antijudaismus stark verbreitet. Sie äußerten sich durch Ausgrenzung, Hetze, gezielter Verfolgung, und waren dabei immer Teil des politischen Diskurses.

Mit der Machtübertragung der Nazis bekam das ganze System. Was zuvor einer gewissen Spontanität unterlegen hatte, wurde von nun an geplant und organisiert ausgeführt.

So war der Antisemitismus der Straße, wie er sich in der Reichspogromnacht entlud, nie Ausdruck des Volkszorns, nie eine spontane Dynamik. Sondern eine gezielte Inszenierung der Staatsführung. Diese fand nicht direkt nach der Machtübertragung statt, sondern erst, als die Nazis ihre Macht nach innen und außen hin gefestigt hatten. D.h. das Volk wurde erst dann so richtig zornig, als es der NS-Führung auch in den Kram gepasst hat.

Doch auch die antisemitische Ideologieproduktion wurde fortan institutionalisiert. Mit dieser wichtige Aufgabe betrauten die Nazis ihre fähigsten Köpfe, wie etwa Propagandaminister Josef Göbbels. Denn der Antisemitismus hat und hatte schon immer eine gesellschaftliche Funktion, deren sich die Nazis sehr wohl bewusst waren: die Probleme in der Gesellschaft – damals war das z.B. die Niederlage Deutsches Reich im 1. Weltkrieg, sowie die darauf folgende Wirtschaftkrise – zu erklären, ohne deren Ursachen zu benennen.

Der Antisemitismus war somit ideologische Voraussetzung für Volksgemeinschaft. Die Volksgemeinschaft, die später Kriegsgemeinschaft wurde. Damit wurde nicht nur der Holocaust, sondern auch der gesamte zweite Weltkrieg mit allen seinen Schrecken durch den Antisemitismus möglich gemacht.

Doch was heißt das für uns heute?

Gelegentlich hört man, dass Antisemitismus für die Rechte heutzutage nicht mehr von Bedeutung sei, dass er abgelöst worden wäre durch andere Formen des Chauvinismus. Das verkennt das Wesen des Antisemitismus, der nicht nur eine beliebige Form der Ausgrenzung gegen diese oder jene Menschengruppe ist, sondern ein Grundstein der faschistischen Ideologie.

Während der Corona-Pandemie erlebten antisemitische Theorien ein regelrechtes Revival. Zu den verschiedensten Verschwörungstheorien, die die Pandemie mit all ihren Begleiterscheinungen erklären sollten, kam der Antisemitismus als verbindender Grundgedanke dazu. Dieses Potential wird heute wieder aufgegriffen.

Wir alle spüren die Auswirkungen der derzeitigen Krise. Teuerungen, Rationierung des Energieverbrauch, und die allgegenwärtige Ungewissheit darüber, welcher Schlag uns als nächstes trifft. Dagegen formiert sich Protest. Doch nicht jeder der auf die Straße geht, tut das in guter Absicht. Bundesweit formiert sich die faschistische Bewegung zu Krisenprotesten. Seien es Freie Sachsen, AfD, Nazisekten oder Überbleibsel der Querdenken-Bewegung. Neuerdings vermischen sie sich zu großen reaktionären Bündnissen, in denen sie Masse vortäuschen, um Wandel zu verhinderen.

Ein solches Bündnis fand sich am 3. Oktober diesen Jahres in Gera zu einer Krisendemo ein, als Hauptredner war Björn Höcke geladen. Seine Rede behandelte hauptsächlich geopolitische Themen, den Zusammenhang zwischen der Energiekrise und dem Konflikt mit Russland. In völkischer Manier beschwor er die natürliche Verbindung des Deutschen und Russischen Volkes füreinander. Wie also konnten die beiden Länder in einen Konflikt geraten?

Seine Erklärung lässt sich in folgendem Satz aus seiner Rede zusammenfassen:

„Es ist entsetzlich: Wir werden von einer raumfremden Macht und einer fremdbestimmten Bundesregierung in einen Krieg hineingetrieben, der nicht der unsere ist. […] Liebe Freunde, ich weiß zwischen den USA und den US-Amerikanern zu unterscheiden. Die USA sind es auf eine andere Art als wir, aber sie sind auch ein fremdbestimmtes Land“

Fremdbestimmt durch wen? Das sagt er nicht, doch alle wissen wer gemeint ist. Und sie sollen es auch wissen. Das ist kein versteckter Antisemitismus mehr, das ist offener Antisemitismus, der nach bürgerlichem Recht gerade noch straffrei bleibt.

Warum sage ich das? Nicht, damit wir uns über den Faschisten Björn Höcke empören, weil er schlimme Sachen sagt. Sondern um die Kontinuität des Antisemitismus, zwischen damals und heute zu erläutern

Denn: Antisemitismus hat dieselbe Funktion

Es werden Probleme erklärt, ohne die tatsächlichen Ursachen zu benennen: Nicht der Widerspruch innerhalb eines Landes, zwischen Herrschern und Beherrschten, innnerhalb eines Volkes, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, sei schuld an Kriegen und Krisen – nein, es muss von außen kommen! Der Weg zur jüdischen Weltverschwörung ist dezent vorgezeichnet.

Und: Antisemitismus hat damals wie heute dieselben Ursachen

Hier müssen, neben den Faschisten, die Antisemitismus propagieren, auch noch diejenigen benannt werden, die wissentlich den Nährboden schaffen für antisemitisches Gedankengut. Es ist allgemein bekannt, dass in Krisenzeiten nicht nur fortschrittliche, sondern auch reaktionäre Kräfte einen Aufschwung erleben. Das gilt vor allem dann, wenn linke Krisenantworten geschwächt sind. Es ist kein Zufall, dass in Krisenzeiten faschistische Gewalt, damit auch gezielt antisemitische, zunimmt. Der Angriff auf die Synagoge in Hannover hat uns das erneut vor Augen geführt. Somit ist klar, dass jene, die gezielt Verarmung vorantreiben und den Klassenkampf von oben führen, all das in Kauf nehmen. Denn ihr Handeln ist der Nährboden, auf dem der Antisemitismus fruchtet.

Ich komme nun zum Abschluss meiner Rede, und der Frage: Wie geht es weiter?

Der Kampf gegen Antisemitismus ist aktuell, und er ist auch heute noch bitter nötig. Dass wir uns auf den bürgerlichen Staat nicht verlassen können, sehen wir daran, wie Faschisten und Antisemiten sich ungehindert, ja sogar durch Sicherheitsapparat gegen Störungen geschützt, organisieren können.

Das heißt für uns: Den Kampf gegen Faschismus und Antisemitismus müssen wir selber führen! Deswegen freue ich mich – trotz des traurigen Anlasses – so viele Menschen hier zu sehen, die bereit sind, ihren Teil zu diesem Kampf beizutragen.

Antifaschistische Aktion Rems-Murr, November 2022

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