Gedenkkundgebung am 9. November 2023 in Welzheim

Gedenkkundgebung am 9. November 2023 in Welzheim

Wie jedes Jahr beteiligten wir uns auch am diesjährigen 9. November an der Gedenkkundgebung am ehemaligen KZ Welzheim. Einen ausführlichen Bericht zum Tag findet ihr hier. Als Antifaschistische Aktion Süd halten wir Gedenkarbeit für eine zentrale Aufgabe. Durch sie formen wir unser Bewusstsein als Klasse, wie auch als kämpfende Bewegung. Gerade jetzt, wo unsere Geschichte geleugnet wird, um an ihrer Stelle eine verdrehte Geschichtsschreibung zu setzen, mit der beispielsweise Deutschlands Unterstützung des Krieges in Gaza legitimiert wird (#niewiederistjetzt), ist diese Aufgabe von besonderer Bedeutung. Wir haben uns daher auch dieses Jahr mit einem Redebeitrag an der Kundgebung beteiligt:


Liebe Anwohnerinnen und Anwohner,
Liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
vielen Dank für die Einladung und Möglichkeit, heute am 9. November zu euch sprechen zu dürfen.
Der 9. November 1938, das haben wir bereits gehört, steht für einen Wendepunkt hin zur systematischen Verfolgung und Zerstörung jüdischen Lebens in Deutschland. Das ist über 85 Jahre her und wenn es noch Zeitzeuginnen und -zeugen gibt, dann nur noch wenige einzelne. Wenn diese die Nachfragen künftiger Generationen zu den Verhältnissen und Erlebnissen jener Zeit nicht mehr beantworten können, sind wir als antifaschistische Bewegung, als Andächtige, besonders gefragt.
Nur wenn wir die Vergangenheit untersuchen und bewerten, können wir aus ihr lernen.
Um die Funktion von Antisemitismus zu verstehen, ist ein Blick auf den Vorabend des 9. November 1938 hilfreich. Die Bevölkerung war wütend und litt unter den Folgen des 1. Weltkrieges und der Weltwirtschaftskrise. Antisemitismus diente den Herrschenden damals, um die berechtigte Wut von den eigentlich Verantwortlichen abzulenken und in für das System „ungefährliche“ Bahnen zu lenken. Die Ursachen von Hunger und Arbeitslosigkeit lagen schon damals in einem System, dass auf ständige Konkurrenz und Eroberung neuer Märkte angewiesen ist. Durch die Erzählung einer geheimen jüdischen Weltverschwörung wurde zwischen den Widersprüchen innerhalb des Landes, zwischen den Profiteuren des Systems und den Ausgebeuteten, abgelenkt. Antisemitismus schaffte ein in sich geschlossenes menschenverachtendes Weltbild und diente als einfaches Erklärungsmodell. Auch wenn die heutige Lage nicht gleichzusetzen ist mit der Situation vor 85 Jahren, behält der Antisemistimus immer noch diese Blitzableiterfunktion bei.
Lasst uns nun gemeinsam einen Blick in die Gegenwart werfen: Die Ergebnisse der kürzlichen Landtagswahlen in Bayern und Hessen zeigen einen enormen Stimmenzuwachs für die AfD, aber auch das konservativ-rechte Lager auf. Sicher gibt es einen harten Kern an Wählern, der rassistisch, frauenfeindlich und nationalistisch ist. Die Gründe für den Stimmenzuwachs in breiteren Kreisen sind dennoch vielfältig. Viele Menschen haben durch die Inflation der letzten Jahre, insbesondere in den lebensnotwendigen Bereichen wie Lebensmittel und im Energiesektor, berechtigte Sorgen. Vor allem Menschen in prekären Jobs müssen jetzt jeden Cent nicht nur zwei-, sondern dreimal umdrehen. Es ist ein Merkmal von Krisen, dass Sicherheiten für größere Bevölkerungsteile wegfallen, die als Selbstverständlichkeit galten: Der Arbeitsplatz, die bezahlbare Wohnung, eine gute Zukunft und für die – falls vorhandenen – Kinder eine noch bessere. Erscheint dies unsicher oder fällt sogar weg, dann ist die nachvollziehbare Reaktion zu sagen: „Ich will, dass alles so bleibt wie es ist! Ich will die gute, alte Zeit zurück als Dinge noch einfach und klar waren!“ Bei solchen Menschen fallen AfD-Argumente häufig auf fruchtbaren Boden. Vor allem dann, wenn eine als „Mitte-links“ wahrgenommene Bundesregierung Milliarden an Steuergelder an die Rüstungsindustrie gibt und in einem lange nicht mehr dagewesenen Tempo auf Krieg im Osten einschwört. Die Angst vor einem kommenden großen Krieg ist für viele spürbar.
Auf die Fragen nach den Ursachen für diese Probleme, mangelt es in der AfD und rechten Szenekreisen auch heute nicht an Erklärungsmodellen: Es gäbe einen angeblich geplanten großen Austausch des deutschen Volkes, das deutsche Volk sei schon lange nicht mehr „Herr im eigenen Haus“ weil bestimmte Kreise überall ihre schmutzigen Finger im Spiel hätten. Diesen Erklärungsmustern haben gemeinsam, dass sie immer offen lassen, es gäbe eine hintergründliche Verschwörung anstatt eines offenen Machtverhältnisses. Auf nähere Nachfrage von wem folgen oftmals Namen wie „Rothschild“ o.ä. Die AfD greift also durchaus auf Antisemitismus zurück.
Zu gerne betonen Weidel, Chrupalla, Höcke und Co. dabei das Antisemitismus ein angeblich „importiertes Problem“ sei und betreiben dabei antiarabischen bzw. antimuslimischen Rassismus. Dabei genügt ein Blick in die Rechtsrocklandschaft, die sogenannte Querdenker-Bewegung oder auch in die Statistik des Bundeskriminalamtes, die zeigt, dass knapp 85% der antisemitischen Straftaten im ersten Halbjahr 2023 politisch rechts motiviert sind. Bezeichnend für das Ausmaß von Antisemitismus in Deutschland sind der Terrorangriff am höchsten jüdischen Feiertag auf eine Synagoge in Halle 2019 und das Attentat von Hanau, bei welchem sich der Mörder auf die antisemitische Erzählung des „großen Austausch“ bezog. Und zeigen gleichzeitig, dass es sich bei dem „importierten Antisemitismus“ um eine weitere rassistische Lüge handelt.
Darüber hinaus verkennt diese Debatte die gesellschaftliche Funktion und Wirkweise des Antisemitismus: dieser ist nicht einfach ein weiterer Chauvinismus. Besonders deutlich wird das in der aktuellen Debatte um die Angriffe der islamistischen Hamas auf Israel und der Reaktionen hierauf in Deutschland. Antisemitismus wird als Art „Kampfbegriff“ genutzt um jegliche Kritik am Staat Israel zu ersticken. Es geht dabei gerade nicht um den Schutz jüdischen Lebens, sondern um angebliche Abgrenzung zum Hitlerfaschismus und Legitimation für den eigenen Rassismus gegenüber Muslimen und Flüchtlingen. In diesem Zuge werden weitere Gesetzesverschärfungen möglich, wie die massive Einschränkung der Versammlungsfreiheit für propälestinänische Demonstrationen und auch das Recht auf Flucht und Asyl. Eine solche Ausspielung verschiedener Minderheiten dürfen wir nicht zulassen, weder Antisemitismus noch Rassismus kann die Lösung sein!
Den Erfolg der AfD sehen wir aber nicht nur in den aktuellen Wahlergebnissen. Spätestens seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 ist eine Rechtsentwicklung in der gesellschaftlichen Debatte zu beobachten, welche maßgeblich von der AfD vorangetrieben wird. Gab es vor 8 Jahren noch spürbare gesellschaftliche Gegenwehr gegen die rassistische Stimmungsmache der AfD, sind es heute nicht nur klar rechte Akteure, die sich inhaltlich an ihrer Seite positionieren. Es sind die Grünen und die SPD, die gerade Grenzkontrollen wieder einführen, Abschieben im großen Stiel fordern und eine Verschärfung der Asylpolitik diskutieren.
Liebe Anwesende, das was am 9. November 1938 geschehen ist, ist kein abgeschlossenes Geschichtskapitel. Der Kulturschaffende Berthold Brecht formulierte es nach Kriegsende: Der Schoß ist noch fruchtbar, aus dem das kroch. Es liegt also an uns, das Geschehene nicht vergessen zu lassen. Genauso liegt es aber auch an uns, zu verhindern, dass nochmal so ein Monster hervorkriecht. Diese Aufgabe kann und wird kein anderer übernehmen, insbesondere nicht die Institutionen der Bundesrepublik Deutschland. Zu viele sogenannte „Einzelfälle“ über rechte Chatgruppen in der Polizei sind in der Fläche bekannt geworden. Zu viele KSK-Soldatinnen und Soldaten durften mit nachträglicher Amnestie Waffen und Munition aus der Kaserne abzweigen. Zu viele Hafturteile werden aktuell gegen antifaschistische Aktivistinnen und Aktivisten verhängt, die sich wie Lina oder Jo den Nazis direkt in den Weg stellten.
Was soll also in Zukunft werden?
Natürlich sollten wir auch im nächsten Jahr am 9. November auf die Straße gehen um deutlich zu machen: Wir vergessen nicht! Bis dahin sind es noch 364 Tage: Organisieren wir uns! Wer kein Interesse daran hat, dass AfD’ler und andere Rassisten den öffentlichen Diskurs vor sich hertreiben, wer kein Interesse daran hat das faschistische Gruppen sich die Straßen nehmen, der ist in antifaschistischen Treffen und Gruppen gut aufgehoben. Bauen wir gemeinsam eine antifaschistische Bewegung auf, die weiß wie man normale Menschen wie du und ich überzeugen kann. Eine Bewegung, die in der ganzen Bundesrepublik funktionieren kann weil sie gut und sicher organisiert ist. Eine Bewegung, die das Andenken an die Opfer von Faschismus und Krieg hochhält und sich an den mutigen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern von damals orientiert. Eine Bewegung, die sowohl versteht Gesellschaft zu analysieren, als auch Gesellschaft praktisch zu verändern.
In diesem Sinne: Die antifaschistische Aktion aufbauen!
Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!

No Comments

Add your comment